Das Interview zum Buchtalk mit Armin Öhri

Am 26. April 2023 war der Schriftsteller Armin Öhri Gast in der Bibliothek Buchs. Aufgewachsen in Ruggell, lebt er heute in Grabs (SG). Bekannt sind vor allem seine historischen Kriminalromane um den Protagonisten Julius Bentheim, einen jungen Tatortzeichner. Öhri erhielt den European Union Prize for Literature, seine Werke wurden in mehrere Sprachen übersetzt. In Spanien und Südamerika avancierten die ersten Bände seiner historischen Berlin-Romane zu Bestsellern. Neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit ist Öhri als Lehrer und auch als Literaturveranstalter tätig.

JULIA KELLER /02.05.23

Lieber Armin, du bist Schriftsteller und ich dachte eigentlich, dass du eins deiner Bücher auswählst, stattdessen hast du den Klassiker «Krieg und Frieden» von Leo Tolstoi gewählt. Warum?

Das Format heisst «ein Gast, ein Buch, der Buchtalk». Und weiter habe ich dann im Internet gelesen «der Gast spricht über sein Lieblingsbuch». Ich habe dann gedacht, dass es schon etwas anmassend wäre, wenn ich mit meinem eigenen Buch komme und es dann noch zu meinem Lieblingsbuch erkläre.

Ich habe mehrere Lieblingsschriftsteller wie Wilkie Collins, Robert Louis Stevenson oder Jules Verne. Was alle gemeinsam haben, ist, dass sie im 19. Jahrhundert gelebt haben. Die Literatur des 19. Jahrhunderts hat es mir also besonders angetan. Das Nonplusultra aus diesem vergangenen Jahrhundert ist eben dieser fette Schinken hier. Vom Umfang her ist es wie ein Ziegelstein, und sprachlich ist es ein Meisterwerk, darum habe ich es schlussendlich ausgewählt.

Gefällt dir Tolstoi im Allgemeinen oder geht es dir explizit um die Geschichte «Krieg und Frieden»?

Ich muss vorausschicken, dass Tolstoi grundsätzlich schwierig zum Lesen ist. «Der Tod des Iwan Iljitsch» und «Herr und Knecht», beides kürzere Erzählungen, haben mir sehr gut gefallen. «Anna Karenina», ebenfalls weltbekannt, liest sich um einiges flüssiger als «Krieg und Frieden».

Tolstoi gefällt mir, weil er wirklich sehr gut (be-)schreiben kann. Seine Geschichten ziehen mich in den Bann. Was für mich «Krieg und Frieden» so einzigartig macht, ist die Detailfreudigkeit. Im Buch beschreibt Tolstoi 150 Personen, also Hauptfiguren und noch ganz viele Nebenfiguren. Er nimmt sich die Zeit, diese Nebenfiguren zu entwickeln. Mit ein paar Pinselstrichen verschafft er diesen Figuren einen aussagekräftigen Charakter. Um konkret aufzuzeigen, was ich meine, möchte ich eine Stelle aus dem Buch vorlesen: «Der deutsche Erzieher bemühte sich, alle Speisen, Desserts und Weine zu behalten, um sie detailliert im Brief an die Verwandten in Deutschland beschreiben zu können, und war ziemlich verärgert, weil ihn der Haushofmeister mit der in die Serviette gewickelten Flasche überging. Er blickte mürrisch drein, bemühte sich so zu tun, als ob er diesen Wein gar nicht gewollt hätte, war aber gekränkt, weil niemand verstehen mochte, dass er den Wein ja nicht haben wollte, um seinen Durst zu stillen, nicht aus Gier, sondern aus gewissenhafter Wissbegier.»

Diese kurze Szene sagt viel über den Charakter des Erziehers aus und ich glaube, dass sich alle vorstellen können, was das für ein Mensch ist. Das macht Tolstoi aus! Er nimmt jede Figur ernst. Trotz ihrer Nebenrolle nimmt man diese Figur auf den 1600 Seiten wahr, und das ist für mich schriftstellerische Kunst.

Aktuell ist Russland im Krieg gegen die Ukraine. Ist es nicht heikel, so ein Buch auszuwählen, gerade noch mit diesem Titel?

Ich habe mir natürlich schon Gedanken gemacht. Kann man das in der heutigen Zeit noch als Lieblingsbuch bringen? Solche ähnliche Diskussionen sind in den letzten Monaten auch in der Qulturwelt aufgetreten: Darf zum Beispiel die Opernsängerin Anna Netrebko noch eingeladen werden oder nicht?

Wer das Buch von Tolstoi gelesen hat, weiss, dass Tolstoi sich gegen Krieg ausspricht. Vielfach lese ich in Zusammenfassungen von Krieg und Frieden, es sei unter anderem ein Kriegsroman, aber ich sehe das nicht so. Für mich ist es ein Antikriegsroman.

Wie alt warst du, als du «Krieg und Frieden» gelesen hast?

Meine Oma hat mich zum Lesen animiert. Konkret zum Lesen von hoher Literatur, denn sie gab mir in den 90er-Jahren jeweils regelmässig 10 Franken unter der Bedingung, dass ich einen Reclamband kaufe, das sind die kleinen gelben Bücher. So habe ich wohl alle Klassiker, die es in dieser Verlagsreihe gibt, relativ früh gelesen. Diese Weltliteratur besitze ich heute noch und es sind rund 800 Exemplare. Auf diesem Weg kam ich auch zu den Erzählungen von Tolstoi, und mit 15 Jahren habe ich dann «Krieg und Frieden» gelesen.

Jetzt zum Inhalt: Kannst du uns grob erzählen, worum es im Buch «Krieg und Frieden» von Tolstoi geht? Versuch uns doch dieses Buch zu verkaufen.

Also gut, es darf in keinem Haushalt fehlen, wo ein Tischbein zu kurz ist! (lacht)

Nein, im Ernst, ich empfehle die Ausgabe von Diogenes, weil sie lesbarer ist und in vier Bände aufgeteilt ist.

Der Literaturklassiker «Krieg und Frieden» ist dem Realismus zuzuordnen und deckt ganz viele Sparten ab, denn es geht um verschiedene Familien und es ist zugleich ein Liebesroman. Es wird vom Krieg und von der damaligen Gesellschaft berichtet. Zudem ist es ein soziologischer und historischer Roman. Die Hauptcharaktere sind auf der Suche nach dem Glück im Leben, es dreht sich vor allem darum, wie man innere Ausgewogenheit findet. Das zieht sich durch alle Hauptfiguren im Buch hindurch. Je nach Sinnsuche geht der Protagonist einen anderen Weg. Ein weiteres Merkmal des Buches ist das Dualistische.

Die zwei bekanntesten Verfilmungen sind wohl die Hollywoodausgabe von 1956 mit Audrey Hepburn, Henry Fonda und Mel Ferrer. In den Jahren 1965 bis 1967 entstand die russische Verfilmung, ein 7-stündiger Film. Filmhistorisch auch ganz spannend, denn es war eine Mammutproduktion. Die UdSSR-Armee hat damals Zehntausende von Soldaten gestellt, die dann in den Kostümen die Schlachten nachgestellt haben. Es entstand das Gerücht, dass der Film vom sowjetischen Regisseur Sergei Bondartschuk inflationsbereinigt sage und schreibe 700 Millionen Dollar gekostet hat! Es ist also mit Abstand der teuerste Film, der je gedreht wurde. Die russische Verfilmung gewann dann einen Oscar für den besten fremdsprachigen Film.

Kannst du uns auch ein paar Informationen über den Autor preisgeben?

Tolstoi wurde 1828 in eine russische Adelsfamilie hineingeboren. Er war nicht aufs Geld angewiesen. Er ist viel gereist und interessierte sich besonders für Pädagogik. Ohne die heutige Montessori-Didaktik zu kennen, setzte er sich dafür ein, dass Schüler ihren Fähigkeiten entsprechend behandelt werden. Ihm lag die individuelle Förderung am Herzen.

Um 1869 herum erlitt Tolstoi eine tiefe Sinnkrise, nicht zuletzt, weil ihm die Widersprüche zwischen seinem eigenen Leben im Wohlstand und seinen politischen Überzeugungen unauflösbar erschienen.

Leo Tolstoi war mit Sofja verheiratet und hatte 13 Kinder. Er hat sich im Laufe seines Lebens leider zu einem Tyrannen entwickelt und starb 1910 im Haus des Bahnhofvorstehers Iwan Osolin, umlagert von der Weltpresse, an einer Lungenentzündung.

Was haben Leo Tolstoi und Armin Öhri gemeinsam?

Wie Tolstoi habe auch ich einen Roman, an dem ich seit vielen Jahren arbeite. Mit 16 Jahren begonnen, umfasst das Skript inzwischen über 1000 Seiten. Es handelt sich um einen Römerroman, in dem ich, wie bei «Krieg und Frieden», alles abzudecken versuche, jedenfalls das «typisch Römische», zum Beispiel mit den Themen, wie es auf einem römischen Landgut zu und her geht, und ich beschreibe auch Gladiatorenkämpfe. Die erste Fassung habe ich damals innerhalb von zwei Jahren geschrieben, da war ich noch auf dem Gymnasium.

Das unendliche Überarbeiten, das haben Tolstoi und ich sicherlich gemeinsam.

Und das Interesse für Pädagogik, denn ich bin ja als Lehrer tätig.

Wie viele Bücher hast du geschrieben? Und hast du mit deinen Büchern auch einen Bestseller erreicht?

Veröffentlicht habe ich 11 Bücher, bei einem bin ich Co-Autor.

Manche Bücher wurden in andere Sprachen übersetzt. In Spanien feiert mein Kriminalroman «El Gabinete de los Ocultistas» (Der Bund der Okkultisten) grosse Erfolge, wurde gar als einer der acht besten Krimis des Jahres 2021 gelistet. Die anderen Romane gewinnen im Ausland mehr und mehr auch an Bekanntheitsgrad.

Du hast mir vorab verraten, dass dich «Krieg und Frieden» in deiner Arbeit als Schriftsteller beeinflusst hat.

Ja, und zwar zum Beispiel beim 3. Teil meines Berlin-Krimis «die Dame im Schatten». Die Hauptfiguren sind mitten im Kriegsgeschehen und da drückt schon der Tolstoi in mir durch.

Herzlichen Dank, Armin Öhri, für deine spannenden Ausführungen zu «Krieg und Frieden» und auch den persönlichen Einblick in dein Leben und deine Tätigkeit.

Der nächste Buchtalk findet am 23. August 2023 statt. Doris Büchel wird dann zu Gast sein. Sie nimmt zwei Bücher mit: «Fleisch und Blut» sowie «Die Frau des Metzgers». Beide Bücher sind von Susanna Schwager und sind hier in der Bibliothek Buchs erhältlich.

Was hat die Banane, was ich nicht habe?

Ist das die neue Gretchenfrage? Müssen wir uns heutzutage ständig mit der Konkurrenz messen? Auf dem Arbeitsmarkt wie auch privat? Ist das auf die Dauer nicht verdammt anstrengend? Können wir uns überhaupt auf Lorbeeren ausruhen? Und wie lange können wir noch so weitermachen?

Kürzlich hat einer meiner Facebookfreunde einen wirklich lustigen Spruch gepostet: «Habe mich gestern im Supermarkt auf die Obstwaage gelegt. Wollte einfach mal wissen, was ich als Banane kosten würde.» Was für ein witziger Spruch! Er ist aber nicht nur lustig, sondern in der Kernaussage sehr aussagekräftig. Mit unserem Gewicht als Banane würden wir nämlich sehr viel mehr kosten als eine gewöhnliche Banane. Wir wären also ganz schön teuer und damit automatisch sehr wertvoll und siehe da, wir sind beim heutigen Thema angelangt, denn es ist Dezember und die Jahres- und

Qualifikationsgespräche stehen an.

Eines haben wir Menschen nämlich alle gemeinsam: Wir wünschen uns Wertschätzung. Wir brauchen Bestätigung und Anerkennung. Ohne Wertschätzung verlieren wir die Motivation, die Freude und den Elan. Bei der Arbeit und es spielt dabei keine Rolle, ob es um einen bezahlten Job geht oder um eine ehrenamtliche Arbeit, ist der eigentliche Lohn die Wertschätzung in Form eines Geldbetrags oder einer beziehungsweise mehreren positiven Rückmeldungen, wie zum Beispiel, dass unsere Tätigkeit geschätzt wird und wir gute Arbeit leisten. Wenn dies Anerkennung über längere Zeit ausbleibt, verlieren wir mit der Zeit die Freude. Manche nehmen dies bewusst wahr und orientieren sich dann neu. Die Konsequenz für den Betrieb oder für den Verein ist dann, dass diese einen Mitarbeiter verlieren. Ich glaube, dass das Thema Wertschätzung oft unterschätzt wird.

Natürlich braucht es auch in einer Beziehung ein wertschätzendes Miteinander, sonst ist auch hier ein Scheitern vorprogrammiert.

Ich habe zum Thema Wertschätzung eine Umfrage in meinem Bekanntenkreis gemacht, denn ich wollte wissen, wie wertgeschätzt sich Menschen bei der Arbeit fühlen.

Hier das Ergebnis:

77% sind mit ihrem Lohn zufrieden.

87% sind der Meinung, dass ihre Arbeit wertgeschätzt wird.

31% haben aber schon einmal Tabula rasa gemacht, weil sie sich in ihrem Job zu wenig wertgeschätzt fühlten.

Daraus kann man schliessen, dass die meisten mit ihrer aktuellen Arbeitssituation zufrieden sind und nur rund ein Drittel der Arbeitsnehmer den Job gewechselt haben, weil sie sich nicht wertgeschätzt fühlten. Das ist erfreulich, denn der Arbeitsmarkt ist vielen Schwankungen unterworfen. Die Ansprüche der Arbeitgeber wachsen stetig, überhaupt hat sich in den letzten 20 Jahren eine dynamische Arbeitsqulturentwickelt, so dass ein grosser Druck auf beiden Seiten entstehen kann.

Wertschätzung ist aber nicht nur in der Arbeitswelt zentral, sondern auch in zwischenmenschlichen Beziehungen. In «Mein Name ist Julia» findet sich dazu ein Gedicht. Leider reden wir oft lieber um den heissen Brei, als dass wir aussprechen, dass wir doch nur geliebt beziehungsweise wertgeschätzt werden wollen.

Wertvoll
In deinen Augen wertvoll sein,
das ist es, was ich anstrebe.
Meine Worte sollen dich berühren
und mich dir näherbringen.
Meine Taten zeigen auf,
was ich kann und was nicht.
Wertvoll sein in den Augen meines Gegenübers
wollt’ ich immer sein.
Doch erst bei Licht erkennst du den Wert eines Menschen.
Die Dunkelheit umhüllt es sicher, undurchdringbar.
In deinen Augen wertvoll sein,
das ist es, was ich wollte.
Heute erkenne ich den Betrug.
Wertvoll wird man nicht.
Man ist es.