Nur wer beobachtet, sieht wirklich

Beobachten, das klingt entweder voyeuristisch oder es klingt irre langweilig. Denn heisst «Beobachten» nicht einfach nichts tun? Nichts anfassen, nur schauen, von mir aus von allen Seiten betrachten, aber halt eben einfach «nur» beobachten. Übrigens habe ich jetzt grad ein Bild im Kopf von einem Ornithologen mit einem Feldstecher in der Hand. Halt der Klassiker, Feldstecher gleich Beobachten.

Bild: Pixabay

Dass in der Tätigkeit des Beobachtens, in der es scheint als würde man nichts tun – ausser untätig dazusitzen, so viel mehr steckt als auf den ersten Blick angenommen, ist sehr faszinierend.

Als stolze Besitzerin von Wellensittichen beobachte ich täglich das Verhalten meiner Tiere. Jetzt versteht ihr auch, weshalb ich das Bild vom Ornithologen im Kopf hatte! Noch vor einem Monat hatte ich keine Ahnung von der Vogelwelt. Jetzt hat sich mein Wissen diesbezüglich um ein Vielfaches vermehrt und das hauptsächlich durch geduldige Beobachtung. Natürlich habe ich auch einige Literatur über Wellensittiche gelesen, aber das meiste habe ich erfahren, in dem ich die Vögel beobachtet habe. Nach meinen Beobachtungen habe ich abends immer wieder im Internet recherchiert und dabei festgestellt, dass meine Beobachtungen nicht nur richtig waren, sondern dass ich auch gute Rückschlüsse gezogen habe. Das hat mir nicht nur grosse Freude bereit, es hat mich auch angespornt dran zu bleiben, weil mich «dieses persönliche Erfahren – allein durch beobachten» sehr viel weiterbringt. Spannend dabei ist, dass ich selten so bewusst gelebt habe wie die letzten paar Wochen und dabei habe ich gar nicht so viel Aufwand betrieben.

Christian Morgenstern hat einmal gesagt: «Man sieht oft etwas hundert Mal, tausend Mal, ehe man es zum allerersten Mal wirklich sieht». So habe ich es übrigens auch mit Wörtern. Da entdecke ich ein neues Wort und denke allen Ernstes, dass dieses Wort neu sein muss, weil ich es noch nicht kenne. Doch dann wird mir auf einmal bewusst, dass es dieses Wort schon länger geben muss, weil es mir «plötzlich» da und dort begegnet. Davor hätte ich aber noch geschworen, dass ich es bis anhin noch nie gehört oder gelesen habe. Inzwischen weiss ich, dass ich bis zum besagten Zeitpunkt noch nicht bereit war, dieses Wort in meinem Wortschatz aufzunehmen und zwar aus verschiedenen Gründen, die ich jetzt aber nicht alle hier erörtern kann. Ein wichtiger Grund ist aber sicherlich der, dass wir ständig beschäftigt sind und uns darum automatisch sehr viel entgeht.

Ich möchte euch ermutigen weniger zu tun, doch damit meine ich definitiv nicht faul auf der Couch herum zu liegen, sondern viel mehr das Leben zu beobachten, hier und jetzt. Schaut euch den Regen an – wie die Tropfen an der Fensterscheibe runterkullern oder den Wind – wie er mit den Blättern spielt. Achtet auf die Natur und schaut auch den Partner, überhaupt eure Mitmenschen, genau an. Und solltet ihr Feinde haben, so beobachtet auch diese ganz genau. Sunzi sagt im Buch Kunst des Krieges «Wenn du dich selbst kennst, doch nicht den Feind, wirst du für jeden Sieg, den du erringst, eine Niederlage erleiden. Wenn du weder den Feind noch dich selbst kennst, wirst du in jeder Schlacht unterliegen.» Ihr werdet durch blosses Beobachten hoffentlich zu neuen, aber auf alle Fälle zu sehr aufschlussreichen Schlüssen kommen und euch selber und andere besser verstehen.

Meine Kolumne schliesse ich mit den Worten von Kurt Tucholsky: «Die grösste Sehenswürdigkeit, die es gibt, ist die Welt – sieh sie dir an».

Bild: Pixabay

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