Alles Liebe – XXX

«Ein Jahr – 52 Novellen» heisst das Qultur-Projekt, welches beweist, dass das Schreiben keine Grenzen kennt. Jeweils am Montag werden in den nächsten 12 Monaten Kurzgeschichten publiziert, die aufzeigen sollen, wie vielfältig und facettenreich Literatur sein kann. Um das Projekt möglichst spannend zu gestalten konnten wir 52 unterschiedliche Autorinnen und Autoren aus dem ganzen deutschsprachigen Raum verpflichten. Zusätzlich zu den Novellen stellen sich die Kreativen jeweils kurz persönlich vor.

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Denk falsch, wenn du magst, aber denk um Gottes Willen für dich selber. Doris Lessing  

Klingt so einfach, ist es aber nicht! Denn noch weiss ich nicht, ob es richtig war, was ich getan habe. Ich habe heute, am 21. Dezember, auf einem Spazierweg im Wald, einen Brief gefunden. Das Bündel Papier steckte, in Alufolie gewickelt, in der Öffnung eines Baumstrunks. Und man kann fast sagen, dass die Öffnung wie eine klaffende Wunde aussah, jedenfalls sinnbildlich gesehen. Ich habe den Brief zufällig entdeckt. Wäre mein Blick nicht zur glänzenden Alufolie gewandert, die durch den Reif des Winters zusätzlich glitzerte, würde er immer noch ungelesen im Versteck liegen. Um das Kuvert war Alufolie gewickelt, ich nehme an, es war zum Schutz gedacht. Das Papier ist allerdings trotzdem durch die Feuchtigkeit, der es ausgesetzt war, leicht zerknittert. Der Brief ist handschriftlich verfasst worden und gut leserlich. Ich tippe deshalb auf eine Frau, kann es jedoch nicht mit Sicherheit sagen, weil die vermeintliche Verfasserin den Brief lediglich mit drei Kreuzen unterzeichnet hat. Auch fällt kein einziges Mal im Brief ein Name, weder am Anfang noch am Schluss. Zudem steht nirgends ein Datum. Das ist auffällig und definitiv nicht die Regel. Somit erscheint der Brief auf den ersten Blick ziemlich merkwürdig. Wer wickelt schon einen Brief in Alufolie ein und steckt ihn dann in ein Versteck mitten im Wald? Meiner Vermutung nach muss das jemand sein, der weiss, dass der Empfänger für diese Offenbarung nicht bereit ist, oder aber denkt, dass der Absender diesen Brief aus irgendwelchen Gründen nicht abschicken dürfte. Ich bin viel zu romantisch veranlagt, als dass ich das Bekenntnis eines liebenden Menschen einfach ignorieren könnte.

Jedenfalls habe ich diesen Brief gefunden und mit nach Hause genommen. Einen Brief, der eigentlich nicht mir gehört. Die Zeilen haben mich dermassen berührt, dass ich mir beim Lesen auf einmal eingebildet habe, er gehöre mir. Darum habe ich den Brief samt Alufolie in meine Jackentasche gesteckt, ohne gross nachzudenken. Was ist schon richtig und was falsch? Meistens wissen wir das doch erst im Nachhinein! Zuerst müssen wir den Sprung ins kalte Wasser wagen. Erst dann erlangen wir die Gewissheit, dass etwas richtig war oder eben nicht. Das Leben kann manchmal sehr erfrischend sein.

Es gibt zwei Menschen auf diesem Planeten, die genau wissen, worum es in diesem Brief geht. Sie heissen Absender und Empfänger. Und wir, die anderen, verstehen meistens nur Bahnhof. Mit Gott und den Menschen ist es übrigens ganz ähnlich. Wir werden niemals auch nur einen Bruchteil von dem grossen Ganzen verstehen, von dem Mysterium, das sich Gott nennt. Das Leben gleicht manchmal einer Art Labyrinth. Es gibt Situationen, in denen wir das Gefühl haben, dass wir da nie mehr heil herauskommen. Dann aber ist das Leben wieder eine schöne Reise und wenn wir Glück haben, ist es zeitweise sogar ein Abenteuer.

Im Brief ist für mich die Sehnsucht nach etwas Göttlichem, sei es Gott selbst oder ein Mensch, der uns besonders lieb ist, deutlich spürbar. Wie kann ich «diesen einen Menschen da draussen» erreichen? Ich möchte glauben, dass es immer einen Weg gibt, eine Sache fertigzubringen oder eben eine Geschichte zu Ende zu erzählen. Zwar weiss ich noch nicht wie, aber ich werde einen Weg finden, denn hierbei handelt es sich nicht um ein Märchen, sondern es scheint mir eine wahre Begebenheit zwischen zwei Menschen zu sein – Menschen, wie du und ich. Ja, vor der harten Realität flüchten manche ins Gebet, andere verdrängen das Unangenehme. Der Rest sucht seinen Schutz in der Anonymität. Ich möchte an Wunder glauben. Bald ist Weihnachten. Es ist Zeit, wenn nicht jetzt, wann dann?

Heute ist dein Geburtstag. Was für ein kalter und grauer, ja sogar eisiger Dezembertag. Im Tal liegt kein Schnee und es ist weit und breit keine Sonne in Sicht. Dieses Wetter passt ja bestens zu diesem feierlichen Tag – oder besser Feiertag! Entschuldige den Sarkasmus. Du weisst ja, wie ich sein kann… Ich bin wohl eifersüchtig! Eifersüchtig, dass ich diesen Ehrentag nicht an deiner Seite verbringen kann.

Ob du diesen Tag überhaupt feierst? Wie ich dich kenne, eher nicht. Wann haben wir uns eigentlich das letzte Mal gesehen? Erinnerst du dich noch daran? Es kommt mir jedenfalls unendlich lange vor. An unsere ersten Begegnungen hingegen, an die erinnere ich mich noch sehr genau! Sie waren geprägt von sehr kostbaren Momenten. Später hast du es «amour fou» genannt. Dabei war es so viel mehr als das. In diesen Augenblicken standen wir uns leibhaftig gegenüber. Es war mehr Wahrhaftigkeit zu spüren als Leben. Ein starker Sog liess unsere Seelen miteinander tanzen. War es Liebe oder nur menschliches Begehren? Du hast mich jedenfalls in diesem Moment angesehen, als wäre ich der schönste Mensch auf der Welt. Du und ich – für einen Augenblick auf Augenhöhe. Doch wie alles auf dieser Welt, vergeht auch eine wahrhafte Begegnung zwischen zwei Seelen früher oder später.

Die Welt da draussen feiert also heute dein Jubiläum, nur ich sitze hier und schreibe dir diesen Brief. Ich war nie verbittert, aber ich war lange Zeit tief verletzt. Ich kann auch nicht leugnen, dass du mich enttäuscht hast. Unsere Geschichte begann so ehrlich und rein. Wie oft haben wir zusammen gelacht und manchmal habe ich auch geweint. Ich mochte deinen Intellekt, doch deine Verschlossenheit hat mich befremdet, so sehr, wie ich es noch nie bei einem anderen Menschen erlebt habe. Ich war dir so nah und zugleich so fern. Beständigkeit und ein Leben mit dir, das konnte ich mir vorstellen. Im Nachhinein war ich für dich wohl nur ein Sehnsuchtsort.

So schnell wie du in mein Leben kamst, warst du auch wieder fort. Du hast dich plötzlich, und für mich ohne nachvollziehbaren Grund, von mir abgewendet. Auf einmal hattest du keine Zeit mehr. Es schien fast so, als sei ich dir lästig geworden. Ich wurde zu einem Menschen, der nicht weiss, was gut für ihn ist. Du magst deine Gründe gehabt haben, denn du hast mich wochenlang, ja sogar monatelang ignoriert, aber ich verstand nie warum. Was hatte ich dir angetan? Du hast mitangesehen, wie ich mich dann von dir entfernt habe. Mit jedem Tag ein bisschen mehr. Dabei fühlte ich mich von dir verlassen! Ich habe in der Zeit meines grossen Schmerzes nie geweint und dies, obwohl ich mich viele Nächte nach dir gesehnt habe. Wenn die Angst grösser ist als der Mut und das Vertrauen zu fragil, kann eine Beziehung unmöglich wachsen. Das weiss ich heute, damals wusste ich es noch nicht.

Es gab eine Zeit, da kanntest du mich gut, vielleicht besser als ich mich selbst. Du hingegen hast nie viel preisgegeben. Herrscht denn noch immer in deinem Inneren ein Krieg? Mal willst du mich, mal nicht? Ich bin mir sicher, du hast einen Weg gefunden, um alle diese Gedanken fortzuwehen. Was Distanz angeht, bist du ja ein Meister deines Fachs, dabei suchst du nur menschliche Nähe. Hast du auch nur eine kleine Ahnung, was hier und heute abgeht? Du hast dich wohl in dein Schneckenhaus zurückgezogen, das kannst du gut! Was habe ich getan, dass du mich derart bestrafst? Gib mir endlich Antworten, lass mich verstehen! Ich kann dir nicht folgen. Lass mich dich im Licht sehen.

Manches werde ich nie vergessen, egal wie alt ich auch werden mag. Deine Sehnsucht – sie war wie ein offenes Buch, aber auch wie ein Ozean, der mich gänzlich verschluckte. Und wie das Meer halt ist, unberechenbar und auch mal unbarmherzig, so bist du das jetzt für mich. Die Zeit reichte nie aus, um mich länger im Arm zu halten, obwohl du mich so oft und gern umarmt hast. Deine Berührungen und Küsse waren voller Begehren und doch wusste ich nie, worum es dir wirklich geht.

Später kam ich mir dumm und töricht vor. Ich hätte es besser wissen müssen. Erst Jahre später erfuhr ich durch einen komischen Zufall von der Geschichte, die dein Leben schon Jahre zuvor, also bevor wir uns kennenlernten, radikal auf den Kopf gestellt hatte. Ich spürte deinen unsagbaren Schmerz. Er traf mich mit voller Wucht und ich verstand auf einmal, was mir so viele Jahre verborgen geblieben war. Ich begriff endlich, warum du nicht bei mir hattest bleiben können. All die Jahre hatte ich geglaubt, dass du mich nicht wolltest. Und das, obwohl ich in deinen Augen alles andere gesehen hatte als Abneigung oder Hass. Zu erkennen, dass es nicht meine Schuld war, liess mich endlich weinen, um dich und um mich und um alles, was hätte sein können. Ich habe getrauert, als wärst du gestorben und inzwischen glaube ich zu wissen, dass du den liebenden Teil, also dein Herz, vergraben hattest. Mehr als zwanzig Jahre lang habe ich mich unzulänglich gefühlt. Still und leise habe ich gelitten. Der Schmerz wurde wie ein alter Freund, der mich stets begleitete, oder wie ein Mantel, der mich sicher umhüllte. Er schützte nicht vor Kälte, aber er liess mich mehr erkennen, als ich je für möglich gehalten hätte, denn ich sah mit den Augen eines Kindes – absolut unverfälscht und einfach. Das Leben ist vergänglich, die Liebe nicht.

Wir hatten nie einen richtigen Abschied. Mir jedenfalls ist dieser verwehrt geblieben. Dieser Brief soll einer sein. Als ich dich vor wenigen Wochen in einem Zeitungsartikel entdeckte, konnte ich mir ein Lächeln nicht verkneifen. Wie gut du ausschaust – du hast jetzt graue Haare! Aber sonst hast du dich kaum verändert. Ich hätte dich überall und sofort erkannt. Ich bin mit dem Finger sanft über dein Foto gefahren, wie gerne hätte ich, in dem Moment, deine Wange gestreichelt. Wie damals… erinnerst du dich noch daran? Zu erkennen, dass ich nicht mehr wütend bin, hat mich zu Stift und Papier greifen lassen. Wahrscheinlich werden wir uns nie wiedersehen, aber ich weiss jetzt, dass unsere Geschichte kein Fehler war, es war nur nicht die richtige Zeit.

Heute ist dein Geburtstag und dieser Brief ist für dich. Ich wünschte, du könntest jetzt sehen, wie Gott Sonnenstrahlen auf mein Gesicht scheinen lässt.

Alles Liebe
XXX

Wie benommen falte ich den Brief, den ich bereits zum vierten Mal hintereinander gelesen habe, wieder zusammen. Ich lege ihn ins Kuvert und wickle Alufolie darum. Damit die Folie besser zusammenhält, benutze ich ein wenig Klebstoff. Ich verstehe nicht alles, aber ich weiss nun, was zu tun ist.

Vier Tage später, es ist Weihnachten, und ich kann es einfach nicht lassen! Ich gehe zum dritten Mal innerhalb weniger Tage in den Wald. Ich möchte zu der Stelle, an der ich den Brief einst fand. Doch bevor ich dort ankomme, begegnet mir ein älterer Herr. Wir grüssen einander freundlich und er wünscht mir frohe Weihnachten. Ich weiss nicht warum, aber etwas an ihm ist mir vertraut. Der Mann ist bereits ein paar Schritte weitergegangen, als ich mich intuitiv nach ihm umdrehe und ein Stückchen Alufolie unter seiner Schuhsohle aufblitzen sehe. Ich muss nicht mehr zum Baumstrunk zurückkehren, weil ich mir jetzt sicher bin, dass ich das Richtige getan habe.

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Hat der einen Vogel oder was?

Anfangs November handelte eine meiner Kolumnen unter anderem vom Slogan «Ohne K(uns)t und Kultur wird’s still». Zeitgleich hat Thomas Godoj, ein bekannter Sänger aus Deutschland, auf den sozialen Medien eine starke Message gepostet. Unter dem Motto #alarmstuferot #ohnek(uns)tundkulturwirdsstill hat der Rocksänger mit nur einem Bild mehr gesagt als 1000 Worte es zu sagen vermögen.

Als Besitzerin einer Voliere mit vier darin lebenden Wellensittichen, höre ich immer wieder, dass es unsere Vögel wirklich schön haben und das, obwohl sie in einem «Käfig» leben. Genau so habe ich früher auch gedacht, nämlich, dass Vögel in einem Käfig arm dran sind, weil sie in Gefangenschaft leben. Heute sehe ich es anders, jedenfalls wenn die Vögel gut gehalten werden und die Möglichkeit für Freiflüge besteht. Ich habe festgestellt, dass meine Vögel ihren Käfig gerne mögen, denn er gibt ihnen Sicherheit. Wir Menschen unterscheiden uns da nicht gross, wir können nur nicht fliegen.

Max Ernst (1891 – 1976) ein Maler, Grafiker und Bildhauer, war nicht nur ein bedeutender Künstler seiner Zeit, er war auch ein weiser Mann. Eines seiner berühmten Werke heisst «Les cages sont toujours imaginaires» was auf Deutsch «Die Käfige sind immer eingebildet» heisst. Das Kunstwerk von 1925 hängt im Kunsthaus Zürich. Die Aussage hinter dem Bild hat mich fasziniert, zumal ich die letzten Jahre selber viele Vögel gemalt habe und mir nicht bewusst war, warum.

Die Faszination fürs Fliegen teilen viele Menschen. Ohne Maschine werden wir nie fliegen können, da hilft uns auch die Evolution nicht, es bleibt ein unumstösslicher Fakt. Wir verbinden Fliegen oftmals mit einem Freiheitsgefühl, weil wir dann schwerelos sind. Schwerelos zu sein bedeutet kein Gepäck. Und Gepäck haben wir Menschen oft und viel. Wir sagen nicht ohne Grund: «Jeder hat seinen eigenen Rucksack zu tragen» oder «Jeder hat sein Päckchen zu tragen». Im Übrigen ist es noch keinen Monat her, dass ich geträumt habe, dass ich mit Hilfe eines knallroten, heliumgefüllten Ballons fliegen konnte. Ich schwebte nur ein paar Zentimeter über dem Boden, aber es war ein unbeschreiblich schönes Gefühl. Im Traum habe ich zu einer Freundin gesagt, dass es gar nicht schwer ist zu fliegen. Sie hat mir dann vertrauensvoll ihre Hand gegeben und wir sind gemeinsam durch die Strassen unseres kleinen Dorfes geschwebt. Dabei ist es kein Zufall, dass ich im Traum jemanden aus Kindheitstagen gewählt habe. Unser Käfig entsteht nämlich in der Kindheit und wie der kleine Elefant, der als Baby an einem einfachen Holzpfosten angebunden wird, begreifen wir nicht, dass der ausgewachsene Elefant oder eben auch wir Erwachsene uns von unserem «inneren Käfig» befreien könnten. Max Ernst nennt den Käfig imaginär, er existiert also nur in unserer Vorstellung. Als Kind mussten wir oft beziehungsweise durften wir nicht. Als Erwachsene «müssen» wir nicht mehr so viel, wir dürfen frei entscheiden, wobei gerade das im Moment wirklich schwierig ist, weil wir durch die Massnahmen der Pandemie entmündigt werden.

Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Das sagt man nicht nur so, es stimmt auch. Wir mögen Veränderungen nur bedingt. Wir fühlen uns wohl, wenn wir einen gewohnten Tagesablauf verfolgen. Selten hinterfragen wir unsere Angewohnheiten. Unser Leben ist so wie es ist, man muss es hinnehmen wie ein Vogel, der in seinem Käfig sitzt. Nur wenige Menschen getrauen sich immer wieder mal auszubrechen, man kann es also tatsächlich mit Fliegen vergleichen. Vielleicht habe ich deshalb so Freude an meinen neuen Haustieren, denn sie verlassen tagtäglich ihren sicheren Käfig, um richtig fliegen zu können. Gut, es ist vielleicht nicht ganz «die grosse Freiheit», aber es ist Freiheit in einer sicheren Umgebung und das ist auch viel wert. Wenn Menschen genau dies erleben, erfahren sie grosses Glück und innere Zufriedenheit.

Lieber Thomas, wann darf der Vogel endlich wieder live singen?
Das kann ich leider nicht beantworten – soweit ich weiss, wurden die Massnahmen des «Lockdown light» noch bis ins neue Jahr verlängert und noch herrscht grade unter Kulturschaffenden und Veranstaltern grosse Planungsunsicherheit. Es bringt ja auch nichts, Konzerttermine festzulegen, wenn man dann doch wieder verschieben muss. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass wir nicht noch ein weiteres Jahr ausharren müssen.

Was denkst du über die Aussage von Max Ernst, dass Käfige immer eingebildet sind?
Ich kann die Aussage nur bedingt unterschreiben. Der «Käfig», in dem ich und viele andere Qulturschaffende grade festsitzen, wenn er auch nur eine Metapher ist, ist eine sehr reale Situation. Die Massnahmen der deutschen Bundesregierung – die ich im Übrigen im Kern für sehr sinnvoll erachte – führen dazu, dass wir unseren Beruf und unsere Berufung nicht ausüben können. Wir können aber sicher weiterhin kreativ mit der Gesamtsituation umgehen und uns im Kopf möglichst viel Freiheit im Denken und Schaffen bewahren. Doch die Tatsache, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der Geld ein wesentlicher Bestandteil des eigenen Überlebens ausmacht und die Verdienstmöglichkeiten für Künstler zurzeit maximal eingeschränkt sind, macht den «Käfig» doch sehr materiell und greifbar. Aber sicherlich stimmt es trotzdem, dass wir durch unsere Sozialisation, die Bedingungen, unter denen wir aufgewachsen sind, die Muster und auch Beschränkungen, in denen unsere Eltern aufgewachsen sind und die sie an uns weitergegeben haben, gewisse «Käfige» im Kopf haben. Die kann man als wohltuende Grundgerüste sehen, an denen man sich durchs Leben hangeln kann oder eben auch als Beschränkungen. Und wenn sich in einem ein undefinierbares Gefühl von Unzufriedenheit einstellt, lohnt es sich sicherlich, mal die eigene Komfortzone zu verlassen und sich und sein Leben kritisch zu betrachten und bisherige Verhaltensmuster zu hinterfragen.

Träumst du auch manchmal vom Fliegen?
Hmm… als Kind habe ich das auf jeden Fall. Heute träum‘ ich vom Singen, von Konzerten. Das geht richtig an die seelische Substanz, wenn man will und nicht darf/kann.

Du hast gerade eine neue Single herausgebracht. «Lass es regnen» ist eine kraftvolle Rockballade, die von Reue über eigene Fehler in zwischenmenschlichen Beziehungen erzählt. Schreibst du die Texte selber? Bist du jemand, der manchmal bereut?
Klar kenne ich das Gefühl von Reue – wer hat nicht schon mal in seinem Leben Mist gebaut? Was ich aber nicht bereue ist, dass ich die Texte zu meinen Songs hauptsächlich zusammen mit meiner Freundin Julia Scheibeck schreibe. Wir ergänzen uns da einfach super. Sie kennt mich wie kein anderer, uns beschäftigen die gleichen Themen und sie hat das grosse Talent, neben vielen weiteren, lyrisch immer alles perfekt auf den Punkt zu bringen. Sie ist ja eigentlich Fotografin und hat auch das Foto mit dem Vogelkäfig gemacht. Sie hat dann eine Idee und setzt sie sofort um – und ich lass mich gerne einspannen, weil ich weiss, dass dabei immer irgendwas Gutes rauskommt.

DSDS ist lange her. Du hast eigentlich nie in dieses Konzept gepasst und doch, ich würde dich wahrscheinlich ohne diese Sendung nicht kennen. Ist DSDS für dich ein Fluch oder ein Segen?
Mit dieser Frage sind wir dann auch wieder bei einem «Käfig» – wenn ich zulasse, dass es ein Fluch ist, ist es ein Fluch. Betrachte ich es als Segen, ist es auch einer! Ich entscheide mich für den Segen.
Man weiss ja letztlich nie, wo man jetzt stünde, wenn nicht alles so passiert wäre, wie es eben passiert ist. Somit ist es Energieverschwendung.

Deine Songtexte sind manchmal auch politisch. Dein neues Album heisst «Stoff» und du präsentierst das Album auf Facebook mit folgenden Worten: Der musikalische Impf-Stoff ist da. Inzwischen mischt ja auch die Politik bei medizinischen Fragen mit. Darum interessiert es mich brennend, ob du dich gegen COVID19 impfen lassen wirst?
Ja, das werde ich. Natürlich ist es ein gewisses Experiment, so ein neuer Impfstoff. Doch ich möchte gerne alles tun, um meine Mitmenschen und mich selbst zu schützen und sehe es nicht ein, dass ich mich auf die Impfwilligkeit anderer verlasse, nur um selber ungeimpft und trotzdem sicher herumspazieren zu können.

Vielen Dank für das Interview, Thomas.

Was hat die Banane, was ich nicht habe?

Ist das die neue Gretchenfrage? Müssen wir uns heutzutage ständig mit der Konkurrenz messen? Auf dem Arbeitsmarkt wie auch privat? Ist das auf die Dauer nicht verdammt anstrengend? Können wir uns überhaupt auf Lorbeeren ausruhen? Und wie lange können wir noch so weitermachen?

Kürzlich hat einer meiner Facebookfreunde einen wirklich lustigen Spruch gepostet: «Habe mich gestern im Supermarkt auf die Obstwaage gelegt. Wollte einfach mal wissen, was ich als Banane kosten würde.» Was für ein witziger Spruch! Er ist aber nicht nur lustig, sondern in der Kernaussage sehr aussagekräftig. Mit unserem Gewicht als Banane würden wir nämlich sehr viel mehr kosten als eine gewöhnliche Banane. Wir wären also ganz schön teuer und damit automatisch sehr wertvoll und siehe da, wir sind beim heutigen Thema angelangt, denn es ist Dezember und die Jahres- und

Qualifikationsgespräche stehen an.

Eines haben wir Menschen nämlich alle gemeinsam: Wir wünschen uns Wertschätzung. Wir brauchen Bestätigung und Anerkennung. Ohne Wertschätzung verlieren wir die Motivation, die Freude und den Elan. Bei der Arbeit und es spielt dabei keine Rolle, ob es um einen bezahlten Job geht oder um eine ehrenamtliche Arbeit, ist der eigentliche Lohn die Wertschätzung in Form eines Geldbetrags oder einer beziehungsweise mehreren positiven Rückmeldungen, wie zum Beispiel, dass unsere Tätigkeit geschätzt wird und wir gute Arbeit leisten. Wenn dies Anerkennung über längere Zeit ausbleibt, verlieren wir mit der Zeit die Freude. Manche nehmen dies bewusst wahr und orientieren sich dann neu. Die Konsequenz für den Betrieb oder für den Verein ist dann, dass diese einen Mitarbeiter verlieren. Ich glaube, dass das Thema Wertschätzung oft unterschätzt wird.

Natürlich braucht es auch in einer Beziehung ein wertschätzendes Miteinander, sonst ist auch hier ein Scheitern vorprogrammiert.

Ich habe zum Thema Wertschätzung eine Umfrage in meinem Bekanntenkreis gemacht, denn ich wollte wissen, wie wertgeschätzt sich Menschen bei der Arbeit fühlen.

Hier das Ergebnis:

77% sind mit ihrem Lohn zufrieden.

87% sind der Meinung, dass ihre Arbeit wertgeschätzt wird.

31% haben aber schon einmal Tabula rasa gemacht, weil sie sich in ihrem Job zu wenig wertgeschätzt fühlten.

Daraus kann man schliessen, dass die meisten mit ihrer aktuellen Arbeitssituation zufrieden sind und nur rund ein Drittel der Arbeitsnehmer den Job gewechselt haben, weil sie sich nicht wertgeschätzt fühlten. Das ist erfreulich, denn der Arbeitsmarkt ist vielen Schwankungen unterworfen. Die Ansprüche der Arbeitgeber wachsen stetig, überhaupt hat sich in den letzten 20 Jahren eine dynamische Arbeitsqulturentwickelt, so dass ein grosser Druck auf beiden Seiten entstehen kann.

Wertschätzung ist aber nicht nur in der Arbeitswelt zentral, sondern auch in zwischenmenschlichen Beziehungen. In «Mein Name ist Julia» findet sich dazu ein Gedicht. Leider reden wir oft lieber um den heissen Brei, als dass wir aussprechen, dass wir doch nur geliebt beziehungsweise wertgeschätzt werden wollen.

Wertvoll
In deinen Augen wertvoll sein,
das ist es, was ich anstrebe.
Meine Worte sollen dich berühren
und mich dir näherbringen.
Meine Taten zeigen auf,
was ich kann und was nicht.
Wertvoll sein in den Augen meines Gegenübers
wollt’ ich immer sein.
Doch erst bei Licht erkennst du den Wert eines Menschen.
Die Dunkelheit umhüllt es sicher, undurchdringbar.
In deinen Augen wertvoll sein,
das ist es, was ich wollte.
Heute erkenne ich den Betrug.
Wertvoll wird man nicht.
Man ist es.

Nur wer beobachtet, sieht wirklich

Beobachten, das klingt entweder voyeuristisch oder es klingt irre langweilig. Denn heisst «Beobachten» nicht einfach nichts tun? Nichts anfassen, nur schauen, von mir aus von allen Seiten betrachten, aber halt eben einfach «nur» beobachten. Übrigens habe ich jetzt grad ein Bild im Kopf von einem Ornithologen mit einem Feldstecher in der Hand. Halt der Klassiker, Feldstecher gleich Beobachten.

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Dass in der Tätigkeit des Beobachtens, in der es scheint als würde man nichts tun – ausser untätig dazusitzen, so viel mehr steckt als auf den ersten Blick angenommen, ist sehr faszinierend.

Als stolze Besitzerin von Wellensittichen beobachte ich täglich das Verhalten meiner Tiere. Jetzt versteht ihr auch, weshalb ich das Bild vom Ornithologen im Kopf hatte! Noch vor einem Monat hatte ich keine Ahnung von der Vogelwelt. Jetzt hat sich mein Wissen diesbezüglich um ein Vielfaches vermehrt und das hauptsächlich durch geduldige Beobachtung. Natürlich habe ich auch einige Literatur über Wellensittiche gelesen, aber das meiste habe ich erfahren, in dem ich die Vögel beobachtet habe. Nach meinen Beobachtungen habe ich abends immer wieder im Internet recherchiert und dabei festgestellt, dass meine Beobachtungen nicht nur richtig waren, sondern dass ich auch gute Rückschlüsse gezogen habe. Das hat mir nicht nur grosse Freude bereit, es hat mich auch angespornt dran zu bleiben, weil mich «dieses persönliche Erfahren – allein durch beobachten» sehr viel weiterbringt. Spannend dabei ist, dass ich selten so bewusst gelebt habe wie die letzten paar Wochen und dabei habe ich gar nicht so viel Aufwand betrieben.

Christian Morgenstern hat einmal gesagt: «Man sieht oft etwas hundert Mal, tausend Mal, ehe man es zum allerersten Mal wirklich sieht». So habe ich es übrigens auch mit Wörtern. Da entdecke ich ein neues Wort und denke allen Ernstes, dass dieses Wort neu sein muss, weil ich es noch nicht kenne. Doch dann wird mir auf einmal bewusst, dass es dieses Wort schon länger geben muss, weil es mir «plötzlich» da und dort begegnet. Davor hätte ich aber noch geschworen, dass ich es bis anhin noch nie gehört oder gelesen habe. Inzwischen weiss ich, dass ich bis zum besagten Zeitpunkt noch nicht bereit war, dieses Wort in meinem Wortschatz aufzunehmen und zwar aus verschiedenen Gründen, die ich jetzt aber nicht alle hier erörtern kann. Ein wichtiger Grund ist aber sicherlich der, dass wir ständig beschäftigt sind und uns darum automatisch sehr viel entgeht.

Ich möchte euch ermutigen weniger zu tun, doch damit meine ich definitiv nicht faul auf der Couch herum zu liegen, sondern viel mehr das Leben zu beobachten, hier und jetzt. Schaut euch den Regen an – wie die Tropfen an der Fensterscheibe runterkullern oder den Wind – wie er mit den Blättern spielt. Achtet auf die Natur und schaut auch den Partner, überhaupt eure Mitmenschen, genau an. Und solltet ihr Feinde haben, so beobachtet auch diese ganz genau. Sunzi sagt im Buch Kunst des Krieges «Wenn du dich selbst kennst, doch nicht den Feind, wirst du für jeden Sieg, den du erringst, eine Niederlage erleiden. Wenn du weder den Feind noch dich selbst kennst, wirst du in jeder Schlacht unterliegen.» Ihr werdet durch blosses Beobachten hoffentlich zu neuen, aber auf alle Fälle zu sehr aufschlussreichen Schlüssen kommen und euch selber und andere besser verstehen.

Meine Kolumne schliesse ich mit den Worten von Kurt Tucholsky: «Die grösste Sehenswürdigkeit, die es gibt, ist die Welt – sieh sie dir an».

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Es weihnachtet sehr

… doch vielleicht wird ja auch noch das Weihnachtsfest abgesagt. Wer weiss das schon so genau? Bereits anfangs November (!) hat das Christkind die Grosshändler reich beschenkt. Die Regale sind mit Christbaumschokolade, Adventskalender und anderen leckeren Sachen vollgestopft und sogar tiefgefrorenes Fondue Chinoise wird im Aktionspreis angeboten und das, obwohl Weihnachten noch gar nicht vor der Tür steht! Kommt es mir nur so vor oder beginnt der Weihnachtsrummel mit jedem Jahr früher?

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Jedenfalls scheint COVID19 dem diesjährigen Weihnachtsfest momentan nichts anzuhaben. Es wird fleissig für Sonntagsverkäufe geworben und der Detailhandel muss sich pandemiebedingt kaum einschränken. Im Gegenteil, neu gibt es mindestens zwei Weihnachtsartikel mehr im Angebot. Ich bin mir nämlich sicher, dass eine gewiefte Marketingstrategie auch in der Weihnachtszeit viele Masken und Desinfektionsmittel absetzen wird, dies natürlich im Weihnachtslook!

Trotzdem kann ich mir das traditionelle Weihnachtsfest mit den gängigen COVID-Massnahmen noch nicht so richtig vorstellen: Das Fest der Liebe, wie es heute gern genannt wird, mit dem obligatorischen geschmückten Christbaum, nur dass dieses Jahr alle mit Schutzmaske ehrfürchtig vor dem Baum stehen? Ich nehme an, dass Singen verboten sein wird, denn sicher ist sicher. Und wir brauchen Sicherheit – in dieser Zeit. Beim Essen darf dann aber die Maske abgesetzt werden. Sie darf aber keinesfalls als Serviette benutzt werden!

Es ist Mitte November und ich mache mir nicht nur Gedanken über Corona. Nein, ich mache mir auch Gedanken über die Weihnachtsgeschenke, die ich noch besorgen muss. Zum Glück sind es nicht viele, denn meine Familie «wichtelt» seit ein paar Jahren, was ungemein entlastend ist. Wobei das Wichteln bei uns keine vorweihnachtliche Tradition ist, sondern wir setzen das Ganze an Heiligabend um. An der klassischen Weihnachtsfeier mit geschmücktem Baum und einem festlichen Essen wie Fondue Chinoise, wird bei der Übergabe des Geschenks der jeweilige Wichtel offenbart.

Ich muss mir also nicht für jedes Familienmitglied oder für jeden Freund/-in, ein Geschenk ausdenken oder was noch schlimmer ist, notgedrungen irgendetwas kaufen, nur damit ich nicht mit leeren Händen dastehe. Nein, ich lasse mich nicht mehr stressen. Ich mache da nicht mehr mit. Ich darf mich in dieser Jahreszeit auf etwas Wichtiges, nämlich auf «meine Zeit» konzentrieren. Das ist wohl das grösste Geschenk, welches man sich selber machen kann.

In Zeiten von Corona müssten sich eigentlich immer mehr Menschen darauf besinnen, dass das grösste Geschenk im Leben «die Zeit» ist, die man «bewusst» mit sich und seinen Liebsten verbringen kann.

Und trotzdem ist es wohl nicht selten der Fall, dass Menschen sich von der Weihnachtsqultur, die sich über all’ die Jahre entwickelt hat, stressen lassen und nicht vom Ursprung, nämlich dem Geburtstagsfest Jesu. Es ist wirklich erstaunlich wie Passanten immer wieder von Interviewern überrascht werden und mit den banalsten Fragen total überfordert sind wie in diesem Beispiel hier.

Es scheint fast so, als würden wir nicht mehr wissen, wer wir sind und was wir tun und vielleicht ist das auch bei COVID19 der Fall.

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